Wer den rationalen Diskurs verweigere, der verdiene keine Toleranz, so las ich es letztens. Jetzt können wir alle einpacken, dachte ich, alle: Juden, Christen, Muslime, Hinduisten, Buddhisten, Shintoisten und nicht zuletzt alle Esoteriker und Engelgläubigen. Selbst wenn erstgenannte auf Lehrtraditionen und spezifisch wissenschaftliches Denken über Jahrhunderte zurückblicken können, so weiß ich doch aus eigener Erfahrung, dass jederzeit ein Naturwissenschaftler aus dem Boden schießen kann, der steif und fest behauptet: Theologie!! Das ist doch keine Wissenschaft!!! – und in diesem Falle – wer darf darüber entscheiden, was ein rationaler Diskurs ist und was nicht?

Toleranz, das ist nicht in erster Linie ein politischer Begriff, sondern vielmehr ein eindeutig durch die christliche Tradition geprägter: Tolerantia, das ist das geduldige Ertragen des anderen und seiner Fehlerhaftigkeit. Die Kirchenväter beriefen sich auf Jesu Gleichnis vom Weizen und dem Unkraut (Mt 13, 24-30): Lasst beides wachsen bis zur Ernte! heißt es dort, und es verbietet sich den Christusgläubigen so, das Urteil und das Gericht Gottes eigenmächtig vorwegzunehmen – mit anderen Worten Jesu ausgedrückt: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“ (vgl. Joh 8,7).

Jesus selbst wirft keinen Stein, nicht einen einzigen. Er spricht mit jedem, dem in der Weltgeschichte schon jede Rationalität abgesprochen worden ist: Den Kindern, den Frauen, den Kranken, den Alten, er spricht mit den Verachteten wie den Zöllnern, Pestkranken oder Besessenen, sogar mit den Toten, die er durch seine Worte zum Leben erweckt. Er spricht auch mit denen, die meinen, der Wahrheit letzten Schluss längst zu kennen: Den Pharisäern, die er kritisiert. Er spricht und spricht und spricht, was der Grund ist, aus dem sich seine Worte uns als eine „Frohe Botschaft“ überliefert haben.

Vor Gott gibt es kein Ende des Gesprächs. Es gibt einen Auftrag: Einander auf Augenhöhe zu begegnen, einander durch gegenseitigen Respekt nie die Würde wechselseitig abzusprechen, einander wahrzunehmen, niemanden zu ignorieren – und nie zu vergessen, dass der Splitter im Auge des anderen uns nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass sich in unseren eigenen Augen längst ein Balken finden kann (vgl. Mt 7,3).

Christiane Kuropka

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