Abgesehen von der geheimnisvollen Heiligkeit, die das junge Paar umspielt, ist es eine Geschichte wie aus dem richtigen Leben:
Der Staat ruft, das antike „Finanzamt“ will der Bevölkerung an den Geldbeutel, und mangels moderner Aktenführung und Digitalisierung müssen sich Maria und Josef auf die Socken machen, auf den Weg nach Bethlehem: Die Geburtsstadt gilt als Marker für die Identität der einzelnen Person. In einer Gesellschaft, in der das Individuum oft weniger zählt als der Patriarch und das von ihm angeführte „Kollektiv Familie“, ist es ein Zeichen erstaunlicher Unabhängigkeit, dass sich das Paar – sie hochschwanger – allein [!] auf den Weg macht, ohne Frauen, Mütter, Schwestern, Freundinnen, die Maria in der Stunde der Geburt beistehen könnten. Wer half ihr, wenn keine erfahrene Frau an ihrer Seite war? Josef? Josef, ein moderner Vater, der seiner Verlobten beisteht, Tücher besorgt, ihr beim Atmen hilft und das Chaos einer Geburt – die extremen Schmerzen, die Krämpfe, Blut und Wasser geduldig, empathisch und verständnisvoll mitträgt?
Das jedenfalls legt die Weihnachtsgeschichte nahe, denn nirgendwo ist von einer weiblichen Begleitung, einer engagierten Wirtin, einer Freundin oder Verwandten, die Rede. Sie sind allein, die beiden, Maria und Josef. Und das riecht nach Ärger: Denn in kollektiv denkenden Gesellschaften wie der im alten Israel ist man – so lässt es sich interkulturell vergleichen – eines oftmals nicht: Verlassen von der Familie, wenn es um die großen Lebenswenden geht: Geburt, Initiation, Hochzeit, Tod. Alles wird zusammen bestanden, ob man es will oder nicht: Es ist nicht leicht, in einer kollektivistisch ausgerichteten Gemeinschaft einen ganz individuellen, ganz eigenen Weg zu gehen. Und tut man es doch, so hat man seine Gründe: Sei es, dass es Ärger gab – weil man z.B. „ungeplant“ schwanger geworden ist. Oder, weil man den Menschen wählt und heiratet, den man wirklich liebt und nicht den- oder diejenige, die für einen ausgesucht worden ist.
Oder aber, man ist allein, weil man einer ganz eigenen, inneren Stimme und Berufung folgt: Beiden ist ein Engel begegnet, Maria, die ihre Berufung zur Mutter Jesu durch eine Erscheinung erfährt, Josef, dem ein Engel im Traum begegnet, der ihm den Kopf zurecht rückt: „Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist.“
Es ist ein typisches Muster aller Erscheinungen in der Bibel, dass sie mit den Worten einsetzen: „Fürchte Dich nicht!“ In diesem Falle verbunden mit der Ansage, dass Josef sich nicht vor einer Beziehung mit Maria fürchten soll: Das Kind, das sie erwartet, ist nicht das eines anderen Mannes, sondern es entspringt der Liebe Gottes.
Zwischenfrage: Wer glaubt denn sowas? Welcher Mann, welcher Freund, Verlobte oder Ehemann würde sich darauf einlassen: „Das Kind ist vom Heiligen Geist!“ – bis heute umstritten, kulturwissenschaftlich diskutiert und von Realisten offen abgelehnt: So etwas, das gibt es doch gar nicht!
Für Josef ist das anders. Josef wird an wenigen Stellen der Bibel erwähnt und wir erfahren von ihm keine einzige direkte Rede. Er ist ein Mann des Denkens und der Tat, kein Redner vor dem Herrn. Es ist Maria, die einen Dialog mit dem Engel führt, der ihr erscheint – Josef schweigt und handelt. Nicht die Einwände von außen, nicht das Gerede in der Großfamilie oder auf der Straße sind für ihn relevant, sondern das, was er in der Tiefe seiner Seele als wahr und richtig erfährt. Er ist niemand, der den Skandal sucht, oder, enttäuscht von der Schwangerschaft seiner Verlobten, Psychospielchen mit ihr treibt, sie, die in der Öffentlichkeit als Fremdgeherin dargestellt sogar bedroht und misshandelt, sogar getötet werden könnte, schützt er von vorneherein, ohne große Worte. So heißt es:
„Josef, ihr Mann, der gerecht war und sie [Maria] nicht bloßstellen wollte, beschloss, sich in aller Stille von ihr zu trennen.“
Und dann:
„Während er noch darüber nachdachte, siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum“.
Josefs Denkprozesse sind keine Schnellschlüsse. Offenbar denkt er nicht einfach kurz nach und geht dann mit dem Kopf durch die Wand, nein, er nimmt sich Zeit – und schläft sogar eine Nacht über seine Entscheidung: Soll ich mich trennen, ja oder nein?
Er trifft in einer Zeit, in der man als Mitglied einer Familie, eines Dorfes, einer Stadt nie einfach nur als Individuum gelten konnte, eine Entscheidung, die nur er versteht. Die ganz allein seine ist, SEINE Entscheidung, für SEINE Frau, SEINE Verlobte, SEINE Beziehung, egal was andere hinter seinem Rücken sagen, von ihm erwarten oder denken.
Er geht seinen Weg als Mann und als Sicherheit Mariens: Er lässt sie nie allein.
Wenig ist von der romantischen Vorstellung zu spüren, die wir gemeinhin mit Weihnachten verbinden, als die beiden spät abends von Herberge zu Herberge stolpern. Nirgends ein Zimmer. Wer schon spontan nach einem Hotel in der Hochsaison gesucht hat oder nach einem Stellplatz für seinen Campinghänger, kann es nachfühlen – aber das Ganze dann auch noch hochschwanger?
Der Stall ist eine fast barmherzige Lösung, zumal es nachts in der Region sehr kalt werden kann und die Tiere Wärme ausstrahlen – sollten sie mit einem Esel nach Bethlehem gezogen sein, der Maria getragen hat, ist auch für sein Futter gesorgt.
Jedoch: In einem Stall ein Kind gebären? So geschieht es, allein zwischen Maria und Josef, die beiden als Paar, die durch dick und dünn gehen und sich näher sind, als es uns die mit Gewändern bedeckten Heiligenfiguren vorstellen lassen.
Nun, in der Nacht, geschieht das Geheimnis, Gott kommt in Jesus greifbar und hörbar zur Erde: Mit einem Babyschrei. Engel erscheinen und verkünden den Armen und Reichen, den Hirten und den Königen, den Tieren, den Schafen, den gebildeten Weisen aus dem Morgenland und den ungebildeten Männern auf der Weide: Das Geheimnis will gehört und gesehen werden, über alle Grenzen und Länder hinweg: Der schwarze König, das Symbol eines interkulturellen Christentums, das keine Grenzen in den Köpfen kennt, von Rasse oder Herkunft.
So selig und süß das Licht des Himmels auf die Szenerie scheint, erstrahlend in einer besonderen Sternenkonstellation, so hart die Realität: Es geht nicht geruhsam weiter. Die Mächtigen fürchten einen anderen König, einen, der stärker ist als sie. Und der König Herodes lässt alle Kinder, die in Frage kommen, töten. Josef hört erneut auf einen Traum, er flieht mit Mutter und Kind nach Ägypten. Er fragt nicht, ob es wirklich so ist, ob er wirklich auf seinen Traum hören sollte oder ob er sich das alles nur „zusammengesponnen“ hat. Er kennt sich selbst und vertraut dem, was er in seiner Seele als wahr, als richtig, als für ihn verbindlich erkennt. Er macht sich auf den Weg, ob es andere gutheißen und verstehen oder nicht. Er redet nicht herum. Er drückt sich nicht vor Krisensituationen, nicht vor einer schwangeren Verlobten, nicht vor einem weiten Weg mit ihr im geschwächten Zustand des neunten Monats, nicht vor der Geburtssituation, nicht vor einer Flucht mit ihr, einer Flucht für sie und ihr Kind – Josef allein, er hätte keine Gefahr zu befürchten, und trägt dennoch alles mit, für die Sicherheit seiner Frau und für ein Kind, dessen Herkunft er nur erahnen kann.
Josef also ist eine stille, aber starke Persönlichkeit: Er geht keiner Schwierigkeit aus dem Weg. Er sieht den Dingen ins Auge, denkt nach, vertraut sich selbst und handelt. Sein Ziel ist jedoch niemals, dass es für ihn allein leicht und angenehm sein soll. Sein Ziel ist das Wohl und die Sicherheit seiner Frau, seines Kindes, seiner Familie.
Josef als stiller Begleiter, so, wie wir ihn in der Weihnachtsgeschichte kennenlernen, kann für uns alle ein Vorbild sein. Christsein bedeutet nicht, in allen Fragen des Lebens den leichtesten Weg zu gehen, sondern den „richtigen“ Weg. Es bedeutet nicht, sich vor jeder Krise und jedem Konflikt zu drücken. Es bedeutet schon gar nicht, Menschen in Krisensituationen allein zu lassen, Menschen bloß zu stellen, sie Gefahren psychischer oder physischer Natur auszusetzen, sie zu diskreditieren oder zu diskriminieren, zu verletzten oder zu mobben.
Christsein bedeutet, ein anständiger Kerl zu sein – so zeigt es Josef – und da Christsein keine Frage des Geschlechts, sondern des Menschseins ist: Christsein bedeutet, ein anständiger Mensch sein zu wollen: den inneren Kompass ausgerichtet auf das Geheimnis Gottes. Dieses Geheimnis ist für uns verbindlich, als das, was wir als wahr und richtig wahrnehmen – nicht das, was andere von uns erwarten, was hinter unserem Rücken geredet wird oder was uns bedroht.
Ein solcher Kompass, gepflegt im Gebet oder in der Meditation, im Nachdenken, im „Träumen“ – durch den Gottesdienstbesuch, im Gespräch mit anderen oder in der Zeit für sich selbst: Er kann uns befreien aus den Zwängen, die uns das Leben auferlegt, aus Fesseln, die fremde Machtansprüche über uns legen, aus Erwartungen, die uns schaden und nur dem Ego anderer dienen: Christsein bedeutet, frei den ganz eigenen Weg zu wählen und frei zu sein.
Christiane Kuropka