Ich habe einst vor längerer Zeit eine Geschichte gehört, die ich Euch heute, am Tag der heiligen Erzengel, erzählen möchte. Ich kann nicht mehr genau sagen, wer mir diese Geschichte erzählt hat, noch wie die Personen hießen, die darin vorkamen, noch genaue Zeiten und Orte, aber ich kann Euch versichern, dass sie mir als wahre Geschichte erzählt worden ist und ich von der Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit desjenigen überzeugt war, der sie mir geschenkt hat – und wie bei so vielen Geschichten ist auch hier die Botschaft viel entscheidender, als alle Zahlen und Fakten, die man noch hinzufügen könnte. Lasst sie mich also von Anfang an erzählen:

Es war zu der Zeit, als der Zweite Weltkrieg ausbrach und alle wehrfähigen Männer – wie man sie nannte – also Ehemänner, Väter, Brüder und Söhne, mit je eigenen Namen und dem Wunsch nach Leben – eingezogen wurden, um, nachdem man schon ihre Seelen hatte stehlen wollen, auch ihre Körper einem sinnlosen Ziel zu opfern. Eine Mutter aus dem Münsterland hatte, wie alle Mütter, Angst und Sorge um ihre Kinder und es waren gleich mehrere Söhne, die sie ziehen lassen musste, sagen wir der Einfachheit halber: Es waren drei. Jeden von ihnen vertraute sie beim Abschied dem heiligen Erzengel Raphael an. Raphael, das ist der Erzengel, der in der biblischen Geschichte schon Tobias begleitetet, ihn aus allen Gefahren gerettet, auf einer langen Reise beschützt, und, das Wichtigste, sicher nach Hause gebracht hatte. Sie segnete also jeden ihrer Söhne und ließ sie schweren Herzens ziehen. Die Zeit des Krieges war hart und Nachrichten über den Verbleib ihrer Kinder rar. Der erste Sohn schließlich erlebte die Gefahren des Krieges, kehrte aber sicher nach Hause zurück. Auch der zweite Sohn erlitt die Gefahren des Krieges und kehrte heim. Nur der dritte Sohn ließ auf sich warten und die Sorge seiner Familie wuchs. Eines Abends stand ein fremder Mann im Licht der Hoflaterne. Langsam näherte er sich, um zur nächtlichen Stunde niemanden zu erschrecken. Doch seine Mutter erkannte ihn sofort und rief ihn bei seinem Namen: Es war ihr Sohn, der heimgekehrt war, genau am Feiertag des heiligen Erzengels Raphael.[1]

Ich möchte Euch diese Geschichte schenken, so wie sie mir geschenkt worden ist. Sie zeigt, dass es Momente gibt, in denen wir andere ziehen lassen müssen, in denen wir nicht länger Begleitung sein können, oder auch, wo wir selbst nicht länger begleitet werden können. Es sind Momente, in denen wir ins Ungewisse gehalten sind und uns alle Macht entzogen ist. Genau das ist der Zeitpunkt, zu dem wir uns in besonderer Weise Gottes Macht anvertrauen dürfen. Der Tradition nach manifestiert sie sich in der Gegenwart von Engeln: Dort, wo unser menschliches Vermögen endet, dürfen wir auf ihren Schutz und ihre Begleitung vertrauen: Denn Gott bringt uns sicher nach Hause, wo auch immer dies sein mag.

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