Es ist noch gar nicht lange her, da traf ich am Aasee, hier in Münster, auf einen Jungen: „Israel oder Palästina!“, rief er mir entgegen, und sein Freund schob die Erwartung sogleich nach: „Sagen Sie einfach Palästina!“ Ich versuchte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen – sie waren vielleicht zwölf Jahre alt. In völlig akzentfreiem Deutsch gaben sie mir schwarz-weißes Denken aus Propagandavideos wieder. Ich versuchte, für Frieden zu werben. Neben gesundem Menschenverstand habe ich gute Gründe dafür: Ich kenne mehr als einen Menschen, der, geflüchtet oder vertrieben, neu angefangen hat. Menschen von unterschiedlichen, sozusagen verfeindeten Nationen, die bis heute glücklich miteinander verheiratet sind. Menschen, die Zukunft gewagt haben, egal, was ihre Familien und Freunde zu ihren Plänen sagten, egal, welcher Schmerz und welcher Verlust sie umtrieb.
„Liebet Eure Feinde“, spricht Jesus, „tut denen Gutes, die Euch hassen“ (Lk 6, 27). Hier geht es nicht darum, Unrecht oder Schmerz zu vergessen. Es geht darum, neu anfangen zu können, egal, was passiert ist. Wer hasst, ist nicht frei, sondern wird beherrscht. Wer ewig um Verlorenes kämpft, lässt nie los, um Neues erhalten zu können. Wer jedoch liebt, ebnet Wege für die Zukunft. Dabei geht es um eine andere Art von Gerechtigkeit: Gerechtigkeit muss nicht bedeuteten, Genugtuung zu bekommen – auch, wenn das manchmal wichtig sein kann. Gerechtigkeit kann aber auch bedeuten, Menschen, Orte oder Umstände hinter sich zu lassen, die einem schaden und sich selbst ein gutes Leben zu schaffen, ohne Feinde oder Täter zu vernichten. Gerechtigkeit kann bedeuten, trotz Wunden, Schmerz und Verlust das Leben zu leben, das man sich so sehnlich wünscht.
Und das ist es, was ich den beiden Jungen am Aasee so sehr gewünscht hätte: Dass sie verstehen, dass es ihr Auftrag ist, Zukunft zu leben. Dass sie, dort, wo sie waren, in der Sonne, am Wasser, einfach nur zwölf Jahre alt sein und leben dürfen, egal was passiert ist, immer wieder, ganz neu, um ihre ganz eigene Zukunft zu gestalten.
Christiane Kuropka